Kommentar: Abrüstung oder "Slow down, ESC!"
Ohne Zweifel: Es war ein großartiger 61. Eurovision Song Contest. Stockholm, bis auf den Finaltag selbst, frühsommerlich gestimmt und die Show selbst - ein Hammer. Die Moderationen von Petra Mede und Måns Zelmerlöw sehr smart, angemessen neutral und außergewöhnlich schwungvoll. Es gab schon andere Conférencen - etwa 2001 in Kopenhagen, Moskau 2009 oder 2012 in Baku. Da wusste man dieses schwedische Duo sehr zu schätzen.
Die Buntheit der Show war auch ein Bild von Europa: divers, kühn, artistisch, lampenfiebrig und ernsthaft. Die Filmchen zwischen den Acts verströmten die Coolness britischen Humors. Technisch gesehen vor allem war dieser ESC eine Weltklasseangelegenheit. Selbst der Oscar, der Super Bowl oder die Eröffnung Olympischer Spiele stellen das Fernsehen als Produktionsstätte nicht vor solche Herausforderungen. Das schwedische Fernsehen war nicht einmal in besonderer Angeberlaune, als es bekannt gab, so viele LED-Lichtwandmeter habe es noch nie beim ESC gegeben, noch nie diese Mengen an Accessoires, die die Künstler und Künstlerinnen verwendeten.
Waldsterben beim ESC, bitte!
Allein das Wäldchen, das für Jamie-Lee eilends auf die durchsichtigen Bühnenplatten des Globe getragen und geschoben wurde, wäre noch vor einigen Jahren als Dekoration für nur einen Act undenkbar gewesen. Die Arena und die ihr angeschlossenen kleineren Hallen waren über fünf Wochen Hochleistungslabore für modernstes Fernsehen, das momentan denkbar ist. Mehr ist technisch nicht machbar.
Der ESC war - das war die allererste Aufgabe von 1956 an - immer ein TV-Ereignis, bei dem die avanciertesten Techniken, Bild- und Aufnahmemöglichkeiten ausprobiert wurden. Und zwar immer mit Erfolg. Wer alte ESC-Aufnahmen sieht, auf denen Künstler wie Schaufensterpuppen starr ihre Lieder vortragen, möge mit ihnen gnädig sein: Damals ging dies nicht anders - zwei, höchstens drei Kameras setzten das Geschehen ins Bild.
TV-Techniker und -Regisseure mögen dies positiv bewerten, in Wahrheit aber ist es für viele TV-Stationen eine einschüchternde, bedrohliche Vorstellung, zwei Probenwoche mit anschließender TV-Übertragung zu verbringen. Es gibt in der European Broadcasting Union (EBU) höchstens ein knappes Dutzend Sender, die die schwedische ESC-Gastgeberrolle ebenso erfüllen könnten.
Eingeschüchterte kleine Länder
Ich plädiere für ein Downsizing, für Abrüstungsverhandlungen - und zwar in Genf, in der Zentrale der EBU. Auf dass der ESC wieder ein wenig heruntergedimmt wird auf eine Veranstaltung, an der ebenso viele Länder wie jetzt teilnehmen können, bei der der Aufwand aber stark zurückgeschraubt wird. Wie sonst sollten Länder wie Mazedonien, Zypern, Ungarn oder Litauen je einen ESC gewinnen wollen? "Besser nicht!", werden sie sagen: "Schicken wir ein zu gutes Lied, drohen uns Kosten in Millionenhöhe." Die ESC-Länder steuern zwar Gelder hinzu, aber die Hälfte der Last müssen die Veranstalter tragen, so steht es in den Verträgen. Kürzlich musste das rumänische Fernsehen vom ESC ausgeschlossen werden: Der Sender hatte jahrelang aus blanker Finanznot keine Mitgliedsgebühren an die Genfer EBU-Zentrale überwiesen.
Dass die Siegerin Jamala in der Ukraine - neben ESC 2004-Siegerin Ruslana - zur zweiten Pop-Volksheldin geworden ist, zeigt sich in den stolzen Feiern, die man in diesem riesigen Land jetzt gibt: Sich mit einer solchen Botschaft nicht nur eurovisionär in Europa in Erinnerung zu rufen - als Land, das zu Europa gehört und gehören will -, macht glücklich. Aber beim Sender, der vermutlich ab sofort mit den Planungen für den nächsten ESC beginnen wird, macht man sich zu Recht starke Sorgen. Noch im vorigen Jahr musste die Ukraine - ein Land, dem der ESC vom Debüt 2003 an sehr wichtig war - aussetzen. Nicht des Krieges in der Ostukraine wegen, nicht weil die Krim durch Russland okkupiert worden war, sondern weil es schlicht und ergreifend an Finanzmitteln fehlte.
Für die Lieder wäre weniger mehr
Ein Downsizing wäre auch für die Performances gut. Man erkennt bei allem Bombast kaum noch die Qualitäten der Lieder, ihre Melodien und Rhythmen, von den karg-poetischen Texten ganz zu schweigen. Der ESC ist viel zu laut geworden, zu drastisch, zu sehr an Zirkus erinnernd. Er sollte wieder auf die Möglichkeiten der, wie NDR Radiokollege Thomas Mohr sagte, Feinzeichnerei zurückgreifen. Auf Kalligraphie - und den dicken Malerquast vergessen.
Es wird höchste Zeit - sonst erstickt die erfolgreichste Popshow der Welt an ihrer eigenen Grandiosität.