"Es geht nicht (mehr) um den besten Song"
Wie einfach es doch wäre, wenn es beim Eurovision Song Contest tatsächlich nur um den besten Song ginge. Dann würde man ohne Vorurteile, nicht geblendet von bunten LED-Wänden und dem herzergreifenden Lächeln der Kandidaten die Beiträge hören, nüchtern analysieren und die beste Komposition nach musiksoziologischen, harmonischen und lyrischen Aspekten krönen. So läuft es aber nicht. Zum Glück! Sonst wäre der Contest eine triste Forschungsangelegenheit einer Musikhochschule. Das ESC-Finale ist ein schillernder Höhepunkt eines Monate im Voraus gestarteten Rennens, bei dem - wie in der Liebe und im Krieg - (fast) alles erlaubt ist.
Und aus diesem Grund reicht ein eingängiger Song für einen Sieg nicht aus, wenn er nicht von weiteren Faktoren unterstützt und ergänzt wird. Im Idealfall sollte der sich schon Wochen zuvor zum Ohrwurm gemauserte Beitrag von einem charismatischen Künstler vorgetragen werden, während um ihn herum auf der Bühne eine atemberaubende Show läuft.
Das Charisma
"Nett, süß, hübsch, sexy, souverän…" - die Adjektivparade ist geradezu unendlich, wenn es um den Ausdruck der Sympathie für den Kandidaten geht. Und diese ist die halbe Miete. Wie konnte man unseren Wirbelwind Lena oder den intereuropäischen Traumschwiegersohn Alexander Rybak nicht lieben? Oder die putzigen udmurtischen Babuschkas samt des tanzenden Ofens nicht adoptieren wollen? Da verzeiht man auch einen schiefen Ton oder eine ungelenke Tanzbewegung und sogar einen Song, der nicht unbedingt in die musikalischen Annalen eingehen würde.
Die Show
Oft reicht die Ausstrahlung des Kandidaten schon, um die kompletten drei Minuten zu tragen. Wenn nicht, greift man zu Hilfsmittelchen: Paradiesvogel-Kostüme, kostspielige Bühnenbilder, Geiger und Eiskunstläufer, vereint auf engstem Raum. Und das kann von einem belanglosen Beitrag schon sehr gut ablenken - oder erinnert sich jemand etwa daran, wer zum Beispiel 2011 in Düsseldorf im Vordergrund der Performance der ukrainischen Sandmalerin Ksenia Simonova sang und auf dem vierten Platz landete?
Der Trommelwirbel im Vorfeld
Als ich noch ein Kind war, konnte der ESC-Zuschauer die Beiträge zum ersten Mal am Abend des großen Finales hören, was für seine Entscheidung über den Favoriten reichen sollte. Konnte ein sympathischer Künstler mit einem passablen Song und guter Show überzeugen, stand er auf der sicheren Seite. Heute haben wir theoretisch die technische Möglichkeit, bei den Vorentscheiden fast aller Länder live mitzufiebern. Wer kein Hardcore-Fan ist, konzentriert sich jedoch wohl eher auf die bereits von den Medien herausgepickten ESC-Rosinen. Und so kommt es, dass der eine oder andere Teilnehmername samt Song einem permanent in den Ohren liegt, während die anderen zum glitzernden Einheitsbrei verschmelzen. Das ändert sich auch nicht am Entscheidungstag. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer gilt den bereits aus der vielfältigen Berichterstattung bekannten Gesichtern. Schafft es ein Künstler im Vorfeld des Wettbewerbs nicht, zu einem Begriff für die Fangemeinde zu werden, winkt auch keine Top 10-Platzierung im Finale.
Wer Erfolg will, muss ein attraktives Paket bieten, bei dem keins der genannten Kriterien (der Song, die Bühnenshow, die Ausstrahlung und die mediale Präsenz des Künstlers im Vorfeld) unerfüllt bleiben darf - so lautet zumindest meine Hypothese. Die ESC-Puristen mögen verachtend die Nase rümpfen und in der Erinnerung an die ganz alten Zeiten schwelgen, in denen die PR- und Performance-Tricks nicht über die Liedgutqualität zu täuschen vermochten.
Aber ganz unter uns - der Glitzer, der Farbenwahn, die Akrobatik der Tänzer, Gossip und Fanfotos mit unseren Lieblingskandidaten - das ist doch das, was unsere Herzen höher schlagen lässt und den Eurovision Song Contest ausmacht!
Das alles schränkt die Qualität des Wettbewerbs nicht ein, sondern verleiht ihm noch weitere Tiefe, immerhin geht es nicht (mehr) um den besten Song, sondern um das beste europäische und künstlerische Unterhaltungskonzept!