Kommentar: Germany zero points
Dass er für den ESC gewonnen werden konnte, war zunächst eine gigantische Nachricht. Der erfolgreichste Pop-Künstler aus deutschen Landen der letzten 18 Jahre, Xavier Naidoo, zeigte sich bereit - ja, wie es hieß: er hatte große Lust auf den ESC. Es war tatsächlich klar, dass diese Nominierung Kontroversen auslösen würde. Aber in diesem gigantischen Ausmaß? Es hatte für mich den Anschein, als sei die Diskussion im Netz sogar stärker als bei den Terroranschläge von Paris - war das nicht unangemessen?
Das fanden aber die meisten der ablehnenden Fans des ESC nicht. Nein, Xavier Naidoo sollte dran glauben. Er sei homophob, er sei rechts, er sei dies und er sei das. Ich fand: Das muss erst einmal überprüft werden. Und selbst wenn er einem politisch, popgeschmacklich oder sonstwie nicht so nah steht: Eine faire Chance hat er verdient. Dachte ich.
Ein öffentliches Halali
Die Jäger, die seinen Skalp wollten, haben kein Erbarmen gezeigt. Da half - so nahm ich das in meinem Umfeld wahr - kein Reden, dass er nicht homophob sei, sondern ein Lied gemacht habe, in dem er einen sexuellen Missbrauch an einem Kind wütend, zornig, drastisch verarbeite. Homophob war daran gar nichts. Ich habe das jedenfalls nicht für bare Münze genommen, sondern als Verarbeitung eines als Kind erlittenen Traumas genommen. Und: Ich hatte Vertrauen. Weil ich wusste, dass Xavier Naidoo in seinem beruflichen Leben als Musiker, Sänger und Produzent mit offen schwulen Männern befreundet ist, auch mit ihnen seinen Alltag verbringt - und diesen Alltag sich auch nicht anders vorstellen wollte: Ein Leben in Vielfalt.
Er hat außerdem, um zu einem nächsten Punkt zu kommen, bei den Reichsbürgern, zweifelhaften Gestalten aus der verschwörungstheoretischen Ecke, Nähe gezeigt. Er hat dies zurückgenommen. Er hat sich von vielem distanziert. Und ich dachte immer: Wollen wir nicht, dass Leute, die mal Mist - falls man das bei Xavier Naidoo mal so nehmen will - gebaut haben, wieder in die gute Gesellschaft zurückkommen können? Will man nicht, dass es keine Aussätzigen geben darf?
Ich frage mich: Weshalb hat die halbe ESC-Welt Xavier Naidoo zu einem Aussätzigen erklärt? Und frage mich weiter: Weshalb hat man diese vernunftfern schäumende Kritik an Naidoo gelten lassen? Beziehungsweise: ihr Recht gegeben.
Schauspieler Til Schweiger hält die Kritik gar für eine "Form von Terrorismus!", wie er auf Facebook postet.
Künstlersolidarität - ungehört
Die Kritiker von Xavier Naidoo mögen den Rückzug des Künstlers für einen Sieg halten. Sie mögen sich moralisch ins Recht gesetzt fühlen. Sie dürfen sich so fühlen, weil jeder fühlen darf, wie er oder sie es möchte. Aber: Was bringt ihnen dieser Triumph über ein künstlerisches Experiment? Haben Sie damit rechtspopulistische Gefühle in diesem Land besiegt? Haben sie geschafft, fragwürdige Inhalte aus der politischen Arena herauszuhalten?
Es ist obskur: In den allermeisten Jahren ist es den allermeisten Deutschen einerlei, wer die ARD beim ESC vertritt. Aber Xavier Naidoo wurde plötzlich zum Teufel gemacht, zu einem teuflischen Repräsentanten Deutschlands in Europa. Sie können sich jetzt etwas harmloses, freundliches, politisch auf jeden Fall ecken- und kantenfreies Kunstprodukt wünschen - aber soviel leidenschaftlichen Pop wie den von Xavier Naidoo kriegen sie so schnell nicht wieder.
Eine letzte Bemerkung des Bedauerns: Kritik an Xavier Naidoo zu üben war nie riskant, es war sogar Teil einer Lebenshaltung. Im Sinne von "Hey, seht her, ich bin ein korrekter Menschen, der moralisch über alle Zweifel erhaben ist." So sagen Fundamentalisten des Guten immer. In Wahrheit scheint mir doch wichtig, dies festzuhalten: Hütet euch vor den reinen Personen mit gutem Gewissen. Sie wissen immer Bescheid - und sind doch nur Tugendwächter.
Für den ESC ist der Rückzug Xavier Naidoos ein krasser Rückschritt. Die allermeisten Pop-Musiker aus Soul, HipHop, Funk, Rock oder Elektro haben sich mit diesem Mannheimer solidarisiert, haben gesagt, Naidoo sei weder Rassist, noch homophob oder rechtsradikal. Ihnen glaubte man nicht. Sie werden sich alle vorsehen, ob sie sich selbst für den ESC bereit stellen sollten. Die meisten werden sagen: Besser nicht.