Kontroverse um Xavier Naidoo: super!
Dieser Weg würde kein leichter sein, das war doch schon vorher klar. Und nicht nur der Künstler selbst wird das gewusst haben: Xavier Naidoo ist in unserem Land nicht everybody's darling. Er ist vielmehr umstritten bei sehr vielen Leuten, die seit heute früh im Netz ihrem Erstaunen, ihrer Empörung und ihrer Missbilligung Ausdruck gegeben haben. Und dies auch weiter tun werden.
Reaktionen bei Twitter
Es gibt tatsächlich bislang kaum Resonanz aus der Fanbase des bekennenden Mannheimers. Er hat Millionen Freunde in den sozialen Netzwerken - und er, dieser erfolgreichste deutsche Popkünstler seit 1998, wird von diesen geliebt, gefeiert und verehrt. Unter ihnen sind nur die wenigsten politisch konservativ, rechts, verschwörungstheoretisch unterwegs. Sie mögen ihn, ob es einem als politisch wacher Bürger passt oder nicht, weil er eine gewisse kühle und lebensernste Haltung öffentlich lebt. Er vertritt auch weltanschauliche Dinge, die fragwürdig sind - aber man möchte sagen: Wie stehts mit der Meinungsfreiheit?
Die Reaktionen im Netz waren und sind gewaltig, und ich darf sie so zitieren. Einer schreibt, bald könne man eine neonazistische Gruppe zum ESC schicken; ein anderer, Naidoo sei kein deutscher Künstler, deshalb dürfe er für dieses, unser Land nicht zum ESC nach Stockholm. Es war und ist auch viel Schimpf und Schmäh zu lesen - und mir selbst wird vorgeworfen, das Politische an Naidoo unter den Tisch fallen zu lassen, weil ich ja Fan sei. Aber das Neonazigerede ist falsch, und ein Deutscher ist Naidoo wie ich und andere - das wird in Stockholm von niemanden bezweifelt werden.
Sturm der Erregung
Aber zu meiner Position: Erstens, richtig, finde ich den ESC als europäisierende "Maschine" tatsächlich gut, sonst würde ich mich journalistisch nicht in dieser Weise um das "Projekt" kümmern. Zweitens aber weiß ich natürlich um die Positionen und Haltung Naidoos - und teile sie nicht. Aber dass ich ablehne, was von ihm überliefert wird: Was heißt das schon? Ich habe auch mit anderen keine gemeinsamen Werte, außer vielleicht jenem, der stark darauf setzt, dass wir uns auf das verständigen können, was man Meinungsfreiheit nennen muss. Auch ein Xavier Naidoo kann - je nach Perspektive Gutes oder zu Missbilligendes - äußern, was er möchte.
Nebenbei: Carola, die schwedische ESC-Siegerin von 1991, war bis vor einiger Zeit Teil einer bibel-evangelikalen Sekte ("Livets Ord") - und das war politisch so fragwürdig, wie es nur sein kann. Sie war nur für jene ein Darling, die unbedingt über die politischen und kulturellen Äußerungen der Künstlerin hinweggehen wollten. Andere Popkünstler haben auch Politisches geäußert, bei dem man als andersgesinnter Bürger oder -gesinnte Bürgerin auch nur um Riechsalz bitten konnte, um vor Empörung nicht ohnmächtig zu werden. Wahr ist aber: Ein Künstler wie Xavier Naidoo wird aus dem ESC - kein Event ist so groß, so queer, so vielfältig - nicht als der hinaus gehen, der er vor dem ESC war. In Stockholm wird er es mit queeren Fans und Journalisten zu tun bekommen, und er wird lernen, wie bunt die Welt sein kann, wenn er es nicht ohnehin schon weiß.
Wie einst bei Guildo Horn
Vor knapp 18 Jahren begann in Deutschland eine Kampagne für einen Sänger unter der Schlagzeile (der "Bild-Zeitung"), die ungefähr so lautete: "Darf so einer für Deutschland singen?" Es ging um Guildo Horn, und es war mit ihm die Zeit, in der die deutsche Schlagermuffigkeit alter Prägung tüchtig ausgelüftet werden musste - und ja auch wurde. Wie der Trierer wird jetzt auch am Beispiel Naidoos diskutiert, ob so jemand, salopp formuliert, eurovisionsstubenrein ist. Ich finde: er ist. Alles, was er äußerte und noch äußern wird, verdient die Debatte, die Erörterung. Die Aufmerksamkeit, ob nun böse formuliert oder wägend-interessiert, ist gut.
Im Interview gibt Naidoo schon eine Menge von dem preis, was er bislang öffentlich meinte. Er wirbt für Toleranz und Anerkennung des Anderen. Das muss man ihm nicht glauben, besser gesagt: Man darf skeptisch bleiben. Das, was er künstlerisch repräsentiert, steht vielleicht geschmacklich für manche in Zweifel, aber nicht als Pop-Act der erfolgreichsten Sorte.
Seien wir gespannt auf das, was als Beiträge für Stockholm von Komponisten und Textern eingereicht wird. Und was schließlich sein Lied für das ESC-Finale am 14. Mai sein wird. Der ESC ist für alle ein Prozess. Meinungen ändern sich, Haltungen zur Welt auch: Xavier Naidoo ist offenbar bei sehr vielen ESC-Fans hoch umstritten. Aber niemand kann behaupten, dass dieser Künstler, den der NDR bestimmt hat, für Langeweile oder Schläfrigkeit steht. Das ist, und darauf kommt es an, ein Fortschritt im Vergleich mit anderen deutschen ESC-Jahren ums Ganze.
Anmerkung von Jan Feddersen: In einer früheren Version dieses Artikels stand: "Aber niemand möge bestreiten, dass dieser Künstler, den der NDR bestimmt hat, für Langeweile oder Schläfrigkeit steht." Natürlich hat sich da ein Fehler in meine Formulierung geschlichen. Der Satz muss heißen: "Aber niemand kann behaupten, dass dieser Künstler, den der NDR bestimmt hat, für Langeweile oder Schläfrigkeit steht." Und der Beweis ist ja seit gestern auch in der ESC-Welt: Xavier Naidoo ist kontrovers - als öffentliche Person wie als Künstler. Ich bitte um Verzeihung, aber: Meine Argumentation ist ja eine, die genau das auch unterstreicht.