Russland: The Peter Nalitch Band
Wer hätte das den Russen zugetraut: Zwei Jahre nach dem generalstabsmäßig geplanten Sieg von Dima Bilan in Belgrad und ein Jahr nachdem in Moskau etliche Millionen Rubel gerollt waren, um Europa ein spektakuläres Grand Prix Finale zu bieten, entdeckte das Land plötzlich eine ganz neue Seite des Contest für sich. Keine Frage, mit einem 25 Kandidaten starken Teilnehmerfeld roch auch der russische Vorentscheid 2010 stark nach Großmannssucht. Dann aber zog Pjotr Nalitsch unter dem Namen The Peter Nalitch Band mit seinem Song "Lost And Forgotten" Juroren und Televoter auf seine Seite und nahm der Veranstaltung auf einen Schlag ihre Ernsthaftigkeit.
Gesang statt Architektur
Pjotr Andrejewitsch Nalitsch kam am 30. April 1981 in Moskau zur Welt. Obwohl sein Großvater, ein ursprünglich aus Bosnien stammender Opernsänger, für eine musikalische Ader in der Familie sorgte, entschied sich der junge Nalitsch zunächst für eine Karriere als Architekt. Er beendete 2004 sein Studium an der Moskauer Architekturhochschule, doch zum Entsetzen seiner Eltern brach dann doch der Künstler in ihrem Sohn durch. Pjotr Nalitsch schrieb sich an der Merzlyakovsky Musikschule ein und unter den Fittichen der Gesangslehrerin Iryna Muchina im Moskauer "Studio Orpheus" wandelte sich der Architekt bis zum Jahr 2007 endgültig in einen Tenor.
Russlands erster Internet-Star
Trotz der klassischen Stimmlage feierte Pjotr Nalitsch seinen musikalischen Durchbruch aber nicht auf einer Opernbühne. Seine Karriere nahm 2007 ungeahnte Fahrt auf, als der Moskowiter ein Video für die Nummer "Gitar" auf YouTube veröffentlichte. Das Lied, bewusst im gebrochenen Englisch vorgetragen und mit kruder Kameraführung in der Nähe einer Dadscha in Schelkovskoe in Szene gesetzt, entwickelte sich schnell zu einem Geheimtipp. Dann sprangen die Massenmedien auf den Zug auf und machen Pjotr Nalitsch zu Russlands erstem Internet-Star. Bis zu seinem Auftritt beim russischen Vorentscheid am 7. März 2010 war sein Song fast drei Millionen Mal abgerufen worden.
Das musikalische Kollektiv Pjotr Nalitsch
Seine Popularität machte Pjotr Nalitsch aber nicht zum Großverdiener. Denn dem Stil von "Gitar" treu bleibend, weigert er sich seine Musik allzu ernst zu nehmen. Das beginnt damit, Geld dafür zu verlangen. Einschließlich der Songs des Debütalbums "The Joy Of Simple Melodies" von 2008 können Fans seine Werke kostenlos aus dem Internet herunterladen. Geld kommt lediglich durch Live-Auftritte herein, die Nalitsch mit seinem musikalischen Kollektiv bestreitet. Die Mitglieder sind Jura Kostenko am Saxophon, Sergei Sokolow, der das russische Saiteninstrument Domra spielt, Kostja Schwezow an der Gitarre, Dima Simolow am Bass und Schlagzeuger Denis Marinkin.
Gefunden und verloren
Auf seine Mitstreiter konnte sich Pjotr Nalitsch auch beim russischen Vorentscheid verlassen. Die Pater Nalitch Band lieferte mit "Lost And Forgotten" eine schräge, nach Wodka klingende Hymne ab. Obwohl Tenor Nalitsch bei einigen Passagen seine klassische Stimmausbildung aufblitzen lässt, erinnert "Lost And Forgotten" mehr an Helge Schneider als an José Carreras: Die Ironie und der Humor stehen im Mittelpunkt, nicht der Künstler und sein Lied. Die russischen Zuschauer und Juroren konnten nach Jahren des Erfolgszwangs der Versuchung nicht widerstehen und schickten die Gruppe mit einem Augenzwinkern zum 55. Eurovision Song Contest.
Der Auftrag für Oslo war eindeutig: Pjotr Nalitsch brauchte den Grand Prix nicht zu gewinnen, er musste ihn einfach nur aufmischen. Und das gelang: Bei ihren beiden Auftritten im Halbfinale und Finale zelebrierten die Russen ihre Gratwanderung zwischen Kunst und Komik in einfacher Straßenkleidung und sammelten dabei genug Länderpunkte, um mit "Lost And Forgotten" auf Platz elf zu landen.