Die Wurst auf der Mondsichel
Wer Conchita Wurst sehen möchte, muss nach Berlin fahren. Dort steht sie - nicht in Fleisch und Blut, sondern als 1,57 Meter große Holzfigur im Museum Europäischer Kulturen, geschaffen vom österreichischen Künstler Gerhard Goder. Museumsdirektorin Elisabeth Tietmeyer hat zu der unter Besuchern keineswegs unumstrittenen Skulptur im "MuseumsJournal" einen Text verfasst: "Conchita auf der Mondsichel". Die Autorin schreibt: "Die lebensgroße Skulptur zeigt eine bekrönte Person mit langen schwarzen Haaren und einem dunklen Bart. Sie steht auf einer silbernen Sichel, die auf einem goldenen Achteck befestigt ist, und greift im leichten Ausfallschritt nach einem ebenfalls in Gold gefassten Standmikrofon. Ansonsten blieb die Plastik farblich unbehandelt, allein im Ton des hellen Holzes der Zirbelkiefer belassen, einem Material, das insbesondere in der traditionellen Heiligenschnitzerei der Alpenregion benutzt wird."
Eine Madonnenfigur, kein Klimbim
Das ist eine sehr sachliche Skizze dessen, was das Kunstwerk vom Material her ist - und in welchen handwerklichen Kontext es zu stellen ist. Tatsächlich - nach meiner Beobachtung - ist es das erste Exponat, das aus dem ESC-Zusammenhang stammt und im Hochkulturellen angesiedelt ist.
Ich möchte damit nicht das Stockholmer Abba-Museum diskreditieren, keineswegs. Nächstes Jahr wird es durch ESC-Fans während der Eurovisionstage im Mai einen Ansturm erleben. Aber dieses Haus ist von den üblichen ästhetischen Bewegungen abgekoppelt, es ist mehr eine Fanstätte als ein Museum.
Im Mai 2011 fand in Düsseldorf während des ESC im NRW-Forum eine vom Kunstwissenschaftler Max Dax kuratierte Ausstellung zur ESC-Ästhetik am Beispiel von Plattencovern statt. Doch auch diese Schau blieb in einer Blickweise befangen, die den ESC eher ins "Bizarritätenkabinett" verortet.
Elisabeth Tietmeyer steht ihrem Haus im Berliner Stadtteil Dahlem seit 2013 vor. Ursprünglich war es ein Volkskundemuseum - das zur Aufgabe hatte, auch so etwas wie deutsche Kultur zu präsentieren. Besser: sie zu konstruieren. Solche nationalen Erweckungshäuser sind nicht mehr in Mode. Was genau eine Kultur ist, so sagt es mir die Museumsdirektorin, sei nicht mehr präzise zu fassen, beziehungsweise habe noch nie genau definiert werden können. Eine einheitliche Kultur habe es nie gegeben. Insofern ist es kein Wunder, dass auch ihr Haus sich weltoffen halten muss im Hinblick auf die anzukaufenden Stücke.
Als sie die Conchita-Mondsichel-Skulptur in einer kleinen Galerie in Berlin sah, hat sie nicht gezögert, sie zu erwerben. Denn die künstlerische Arbeit Goders dokumentiert dessen tiefe gedankliche Verbundenheit mit anderen religiös gefärbten, volksfrömmlerischen Arbeiten, die im Heiligenschnitzerbereich gefertigt worden sind. Ähnliche Arbeiten wie die Conchita-Figur finden sich historisch in Europa oder Lateinamerika.
Der ESC als Teil des europäischen Kulturerbes
Elisabeth Tietmeyer schreibt in ihrem Text sehr akkurat: "Gerhard Goders Skulptur passt hervorragend in das Sammlungskonzept des Museums: Sie stellt, wie der Künstler selbst sagt, ein Zeitdokument dar - der Eurovision Song Contest fasziniert jedes Jahr Millionen von Menschen und gehört definitiv zum heutigen europäischen Kulturerbe - ihre Erwerbung erfüllt damit den gegenwartsorientierten Anspruch des Museums." So gut hat das noch kein Mensch aus dem Hochkulturbereich formuliert.
Der ESC als Teil des "europäischen Kulturerbes" - das ist cool aufgeschrieben und wahrhaftig zugleich. Denn: Was ist der ESC anderes als ein Schaufenster europäisierender Bilder aus alten bis sehr alten Zeiten? Und dazu gehören Diven und Madonnen. Auch heutzutage arbeitet man beim ESC unter anderem mit überliefertem Bilderfundus. Conchita war womöglich beides zugleich, Diva und Madonna.
Die Conchita auf der Mondsichel lohnt den Besuch im Museum Europäischer Kulturen. Davon abgesehen läuft dort auch gerade eine kleine Ausstellung zur schwedischen Provinz Småland. Eine gute Brücke zum nächstjährigen ESC.